Jeden Tag gegen 13.15 Uhr kam der Mann. Man konnte die Uhr nach ihm stellen.
Immer kam er schnellen Schrittes, und immer trug er die prall gefüllte
Aktentasche bei sich.
Auf immer derselben Bank im Park ließ er sich nieder, packte sein Brot
aus und die Zeitung, Das Brot essend, überflog er eilig die Seiten.
Ein, zwei Blicke hinein in den Park, zu den Müttern mit Kindern, zu
den Spaziergängern ... dann faltete er schnell die Zeitung wieder zusammen,
warf beides, Zeitung und Butterbrotpapier, in den Abfalleimer und entfernte
sich wieder, mit den gleichen eiligen Schritten wie beim Kommen.
Eines Tages blieb er sitzen.
Nach Stunden fand man heraus, dass er gestorben war.
Beim Abtransport sah man auch in seine Aktentasche, um vielleicht die Personalien
ermitteln zu können. - Es war nichts darinnen, nur geknülltes
Zeitungspapier.
Ich weiß nicht mehr, wann und in welchem Zusammenhang ich diese Geschichte das erste Mal gehört habe. Ich weiß aber noch, dass ich von der "Pointe" völlig geschockt war. Da läuft jemand tagaus, tagein dieselben Wege, begegnet denselben Menschen, grüßt vielleicht und wird gegrüßt, und dennoch kennt er niemanden und wird von niemandem gekannt. Ein Mensch, der eine Rolle spielt, die Rolle des vielbeschäftigten, in dieser Welt "nützlichen" Menschen, um seinem leeren Leben einen Sinn zu geben.
Zwei Dinge machen mich da ziemlich nachdenklich:
- In was für einer Welt leben wir eigentlich, in der wir unseren Wert
darüber definieren, wie "nützlich", wie produktiv, wie stark in
die Leistungsgesellschaft eingebunden wir sind? und
- wie nehme ich selbst denn meine Mitmenschen wahr? Definiere ich sie genauso,
nach einem Schubladen-System? Wie viele Menschen kenne ich, die ich nicht
wirklich kenne? An denen ich regelmäßig vorbeilaufe, die ich kurz
grüße, ohne sie richtig wahrzunehmen? In unserer Gesellschaft
ist ja für alles gesorgt, es gibt Seniorenheime, Behinderten-Wohnheime,
Berufsbildungswerke, Kinderkrippen ... und zu Weihnachten jede Menge
wohltätige Sammlungen und Weihnachtsfeiern - nur das ganz persönliche
Wahrnehmen meines Mitmenschen, das Miteinander, geht dabei den Bach ab, scheint
ja nicht nötig.
...
- Und wenn ich jetzt einfach mal versuche, das wahrzunehmen, was ich, als einzelner kleiner Mensch, in meiner direkten Umgebung sehen kann? Nicht nur das Bild in der Illustrierten, von den leidenden Kindern im fernen Land, sondern den einsamen Kollegen?
Nur so als Beispiel.