Als ich jung war ...

Lilith ThabiaEl


Bernard Shaw sagt einmal: "Wer mit Zwanzig kein Sozialist ist, hat kein Herz. - Wer mit Dreißíg noch Sozialist ist, hat keinen Verstand!" Ohne mich mit der politischen Dimension dieser Sätze auseinandersetzen zu wollen: es ist etwas dran an dieser Zwanzig/Dreißig-Aussage.

Als ich jung war, fasste ich einen Entschluss: ich wollte die Verlogenheit und Intoleranz meiner jeweiligen Umgebung aufdecken.

Dabei hatte ich selbst allerdings genügend Vorurteile für mich selbst aufzuweisen. Ich ging davon aus, dass z.B. eine normale ostwestfälische Landeskirche mit Sicherheit nicht bereit sei, Leute, die anders sind als sie selbst, zu akzeptieren. Also bemühte ich mich, nur nicht zu sein wie sie. Ich lief in alten, zerrissenen (aber sauberen!!) Jeans und meiner geliebten "Ein-und-alles"-Motorradjacke in die Kirche und hoffte, aufzufallen. Wie würde ich die Intoleranten strafen, wenn sie sahen, dass jemand, der Christ war wie sie, der im Gottesdienst mitarbeitete, der keine schlimmen Sachen machte, so herumlief wie die, mit denen sie nichts zu tun haben wollten. Mussten sie dann nicht begreifen, dass es Vorurteile waren, die sie "den anderen" gegenüber hatten?

Ich habe nie überprüft, ob diese Vorurteile überhaupt bestanden!

Später hatte ich nicht mehr ganz so weitreichend "soziale" Hintergründe. Ich lief mit einem Glöckchen am Schnürsenkel und einem einzelnen lackierten Fingernagel herum, machte immer noch meinen Dienst in der Gemeinde und wollte einfach nur so sein dürfen, wie mir gerade war. Stets hatte ich irgendetwas an mir, dass ich als fest zu mir gehörend bezeichnete. Und es war mir wichtig, diese kleine Besonderheit an mir zu haben. Ich war auch bereit, Beeinträchtigungen auf mich zu nehmen, um "ich sein" zu können. Z.B. war es mir im Grunde selbst unangenehm, beim Presbyterdienst vorn vor der Gemeinde möglichst reglos dazusitzen, um nicht ständig zu "bimmeln". Aber aus gegebenem Anlass das Erkennungszeichen meiner Einzigartigkeit ablegen? Das kam überhaupt nicht in Frage. Sollten sie doch dumme Bemerkungen machen. Ich war ich, und dafür konnten sie auch ruhig lästern.

Nur, eigentlich hatte nie jemand geäußert, dass ich nicht so sein dürfe, wie ich war!
Nur: der in seinen Vorstellungen Gefangene war ich!

Heute, im "reifen" Alter von Jenseits der Vierzig, bin ich etwas gelassener geworden. Meinem lackierten Fingernagel habe ich immer noch - wenn mir danach ist. Das Glöckchen am Schuh hab ich lange mangels Brauchbarkeit entfernt. Auch der einzelne regenbogenfarbige Schnürsenkel ist irgendwann in der Tonne gelandet. Ich habe auch heroisch die Idee zur Seite gelegt, für den Rest meines Lebens nur noch Schwarz zu tragen, weil Schwarz eben die Farbe ist.

Ich habe mich von meinen selbst auferlegten Fesseln gelöst. Meine Einzigartigkeit gibt mir Gott, nicht irgendeine nur zu mir gehörende Marotte. Warum sollte ich nur Schwarz tragen, wenn mir eigentlich manchmal nach einem geblümten Sommerkleid ist? Warum sollte ich mit aller Gewalt nur meine - immer noch - Lieblingslederjacke tragen, nur, weil ich mich darauf festgenagelt habe? Warum sollte ich mit aller Gewalt versuchen, die Menschen um mich herum auf ihre Vorurteile hin zu provozieren, wenn ich nicht einmal weiß, ob diese überhaupt vorhanden sind - und, wie es um meine eigenen steht?

Warum sollte ich so auf Äußerlichkeiten achten?

Warum eigentlich sollte ich gegen Wände rennen?

***

Ich werde weiterhin vehement für Menschen eintreten, die es schwer haben in der Allgemeinheit. Ich werde weiterhin Partei ergreifen für alle die, die nicht den "Maßstäben" der Gesellschaft entsprechen.

Ich werde mir auch weiterhin herausnehmen, selbst zu entscheiden, wann ich wie herumlaufen möchte.

Aber ich habe gelernt, dass es nicht grundsätzlich falsch ist, manchmal Rücksicht zu nehmen auf Konventionen - auch wenn sie nicht den eigenen tieferen Wünschen entsprechen.

Für mich ganz persönlich würde ich es heute so formulieren:
Wer mit 15 nicht gegen alles und jeden protestiert, lernt sich selbst nie wirklich kennen. - wer mit über Dreißig immer noch gegen alles und jeden protestiert, hat irgendetwas nie richtig verstanden.

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